Der 29-jährige, in Belgien geborene Fahrer des US-Teams Garmin Slipstream rangiert nach 18 Etappen auf dem vierten Gesamtrang. Nur 5:36 Minuten trennen ihn von Spitzenreiter Alberto Contador, nur elf Sekunden vom drittplatzierten US-Superstar Lance Armstrong.
Urknall auf dem Berg
Vor zwei Jahren hatte Wiggins die Frankreich-Rundfahrt nach 16 Etappen noch aufgegeben. Als 131. lag er zu diesem Zeitpunkt unglaubliche 3:24 Stunden hinter Contador, der fünf Tage später in Paris seinen ersten Gesamtsieg bei der Tour de France bejubeln durfte. Im Vorjahr war Wiggins nicht am Start.
Die durch die Vorbereitung auf die Olympischen Spiele in Peking bedingte Pause - Wiggins holte im August 2008 sowohl in der Einzel- wie auch in der Mannschaftsverfolgung die Goldmedaille - behagte dem Briten offensichtlich. Plötzlich fährt er nicht nur gegen die Uhr schnell, sondern auch mit den Besten über die höchsten Berge.
Britische Sensation
Die Bergankunft im Schweizer Skiressort Verbier hatte er am Sonntag sogar als Dritter beendet. "Die tollste Leistung, die wir von einem britischen Rennfahrer bergauf je gesehen haben, sensationell", schrie die irische Radlegende und TV-Kommentator Sean Kelly ins Mikrofon. Da hatte zuletzt der Schotte Robert Millar für Furore gesorgt, der 1984 als Bergkönig am Ende Vierter geworden war.
Wiggins nahm es gelassener. "Ich bin gar nicht überrascht, wusste, dass ich das Können für einen Platz im Spitzenfeld habe." Seine Gegner zollten ihm Respekt, den er sich redlich verdient hatte. Und auch das Publikum gewann mit jeder Topplatzierung mehr Vertrauen in das Leistungsvermögen des Briten, der in 16 Etappen nie schlechter als Sechster, als Dritter sogar viermal auf dem Podium klassiert war.
Erstaunlicher Wandel
Im Alter von 29 Jahren vollzog der Vertreter der seit Jahren auf der Bahn tonangebenden "britischen Schule" einen erstaunlichen Wandel. "Diese günstige Konstellation wie jetzt kommt vielleicht nie wieder. Mein Ziel ist es, Paris mit dem bestmöglichen Resultat zu erreichen. Ich vergesse alles, was die Leute über mich sagen oder von mir erwartet haben", sagte Wiggins, dessen Garmin-Equipe sich wie einst Lance Armstrong in Gerona (Spanien) ansiedelte.
"Dass er gewisse Qualitäten hat, ist ja nicht unbekannt, immerhin ist er Olympiasieger. Er galt zwar bisher nicht als ausgemachter Bergspezialist - vielleicht hat er sein Training umgestellt", suchte der deutsche Hoffnungsträger Linus Gerdemann nach einer möglichen Erklärung für die exorbitante Leistungsexplosion seines Sportkollegen.
Auch Österreichs Vertreter Bernhard Eisel staunte. "Wiggins hat mich sehr überrascht, er fährt eine sensationelle Tour. Aber ich kenne sein Talent. Daher weiß ich, dass er es wirklich draufhat", sagte der 28-jährige Steirer, der in der vergangenen Saison noch gemeinsam mit Wiggins bei Columbia-Highroad und 2003 mit ihm beim FDJeux-Team gefahren war.
"Kein Bernhard Kohl"
Für Wiggins ist die Lösung des Rätsels über seine Leistungssteigerung leicht: "Radikale Gewichtsreduzierung von sechs Kilogramm". Doch die Kritik hinter vorgehaltener Hand ging auch an dem kühlen Briten nicht spurlos vorüber. "Behaltet den Glauben an mich. Ich bin kein Bernhard Kohl. Ich weiß, dass ich sauber bin", sagte er in Anspielung auf den des Dopings überführten Vorjahresdritten aus Österreich.
Wiggins: "Ich habe mich sowohl mental als auch physisch verbessert, dafür hart trainiert." Er sei ein Kämpfer, der nach dem Höchsten strebt. Was auch zu Problemen führen kann. "Meine Leidenschaft zu gewinnen treibt meine Frau regelrecht in den Wahnsinn."
Flucht in den Alkohol
Auch hätte ihn sein unbändiger Siegeswille, das Streben nach Erfolg, beinahe die Karriere gekostet - nach seinem ersten Bahn-Olympiasieg 2004 in Sydney. Wiggins war dem Alkoholismus verfallen: "Mit 24 hatte ich alles erreicht. Da blieb mir nur noch das Bier. Sechs Stunden am Tag eine Flasche nach der anderen. Und das ein Jahr lang."
Wie seinem Vater Gary sei es ihm gegangen, ein früherer Radprofi, der 1983 für das deutsche Kotter-Team fuhr und im Vorjahr auf einer australischen Straße verstarb. Die Ursache ist ungeklärt. Sohn Bradley Wiggins: "Ich habe definitiv seine Gene geerbt und eine süchtige Ader."
"Ernüchtert" habe ihn erst die Geburt seines Sohnes Ben im Jahr 2005. Seither trainiert er wieder verbissen. Und seit kurzem geht es bergauf - nun sogar schnell, und garantiert ohne Doping, wie Wiggins behauptet. "Aber wäre ich nur fünf Jahre älter, wäre ich wohl auch in diese Sucht hineingerutscht."
Michael Fruhmann, ORF.at
Links:
- Bradley Wiggins (wikipedia)
- Tour de France