"Das Versagen eines Zustandes"

"In einer affektiven Reaktion ist man sich der Konsequenzen überhaupt nicht bewusst."
Das Blackout: eine Reaktion, die in einer Prüfungssituation ebenso auftritt wie nach übermäßigem Alkoholkonsum. "Das plötzlich völlige Versagen eines Zustandes", lautet die allgemeine Definition.

Auch im Sport ist das Blackout ein ständiger Begleiter. Im Fußball kassieren Goalies "Steirertore", im Kampf um Medaillen versagen schon einmal die Nerven.

Immer häufiger führen aber die geistigen Aussetzer zu provokanten Gesten oder gar körperlichen Attacken, die weit über die Grenzen des Akzeptablen hinausgehen.

Wenn jeder zum Gegner wird
Besonders schlimm war die Aktion von Sergio Jauregui, der in Bolivien Anfang September im Stadtderby von Santa Cruz seinen Gegenspieler Leonardo Medina mit einem brutalen Karatetritt niederstreckte und trotz Beteuerung eines Blackouts für ein Jahr gesperrt wurde.

Auch Schiedsrichter legen sich, wie zuletzt in der Schweiz FIFA-Referee Massimo Busacca, per Mittelfinger mit den Zuschauern an, und Spieler attackieren Fans handgreiflich - wie das englische "Enfant terrible" Craig Bellamy von Manchester City im letzten Stadtderby.

Der Stress fordert seine Opfer
In der Psychologie spricht man dabei von einem Affekt, einer emotionalen Reaktion, die ohne kognitive Steuerung auftritt. In diesen Momenten greift bei einem Sportler die Emotionskontrolle nicht. Bei entsprechender Persönlichkeit kommt es dann zum Ausraster.

"Das Problem im Sport ist, dass das Aktivierungsniveau so hoch ist", erklärt der Sportpsychologe Günter Amesberger von der Universität Salzburg im Gespräch mit ORF.at. Gemeint ist der Stress, der durch Druck von außen und den Zwang, eine Höchstleistung erbringen zu müssen, hervorgerufen wird.

Blockade und Kontrollverlust
"Emotionen sind immer eine Koppelung von Emotionsverarbeitung und Aktivierungsniveau. Je höher das Niveau ist, desto wahrscheinlicher ist ein aggressives Verhalten", so Amesberger, der vor der Euro 2008 das ÖFB-Team psychologisch EM-reif machte.

"Es gibt eine hohe Adrenalinausschüttung. Man hat Stressreaktionen und vermutlich auch eine Blockade der kognitiven Areale. Das Emotionszentrum verliert kurzfristig komplett die Herrschaft. Man wird ohne Kontrolle über den Zentrallappen gesteuert", nennt Amesberger auch die Abläufe auf der physischen Ebene.

Denn sie wissen, was sie tun
Einen absoluten "Filmriss" gibt es jedoch nicht, denn der Akteur hat an den Ablauf und die Ursachen seiner Aktion sehr wohl eine Erinnerung.

"Der Kortex hat ausreichend Informationen, damit er einem erzählen kann, was da passiert ist. Wenn das nicht der Fall ist, wären das schon psychische Ausnahmesituationen. Hier müsste man schon von Persönlichkeitsstörungen sprechen", erläutert Amesberger.

Zidane verliert den Kopf
"Opfer" des Kontrollverlusts wurde auch der Franzose Zinedine Zidane, der in der Öffentlichkeit bis zum WM-Finale 2006 in Berlin als eher ruhiger Zeitgenosse wahrgenommen wurde.

Mit seinem legendären Blackout stellte er dann beinahe seine sportlichen Leistungen in den Schatten. Der berühmteste Kopfstoß der Sportgeschichte traf den Italiener Marco Materazzi und sorgte für den unrühmlichen Abgang Zidanes von der Weltbühne des Fußballs.

Provokation bringt Fass zum Überlaufen
"Die hohe Aktivierung war sicherlich ein Mitgrund. In diesem Fall war es aber nicht der entscheidende Grund, weil es eine gezielte Provokation von einem Spieler gab, den er gut kannte. Das und der Druck hat seine Handlungskontrolle leiden lassen", so Amesberger.

Kein Gedanke an die Konsequenzen
An die Folgen des Ausrasters in seinem letzten Spiel für sich und sein Team verschwendete Zidane im Affekt allerdings keinerlei Gedanken.

Aus einem logischen Grund, wie Amesberger weiß: "In einer affektiven Reaktion ist man sich der Konsequenzen überhaupt nicht bewusst. Das bezeichnet man als reaktive Aggression. Unmittelbar nach dem Angriff einer anderen Person setzt man eine Antwortreaktion, ohne die Konsequenzen zu bedenken."

Sportgymnastik nicht "weniger aggressiv"
Doch nicht nur im Fußball kommt es zu Affekten - man erinnere sich nur an den Ohrenbiss von Mike Tyson im WM-Boxkampf gegen Evander Holyfield.

Laut Amesberger gibt es Sportarten, die für einen "Auszucker" und aggressive Handlungen prädestinierter sind als andere. Der Grund liegt in den unterschiedlichen Verhaltenskodizes der jeweiligen Sportart.

"Überall, wo Körperkontakt und ein härteres Niveau üblich sind, findet das in der direkten Auseinandersetzung statt. Man braucht nicht glauben, dass Rhythmische Sportgymnastik weniger aggressiv ist, aber es wird auf einer ganz anderen Ebene ausgetragen. Hier sind die Verhaltensnormen im Sport ganz entscheidend für die Grundmuster", so der Sportpsychologe.

Der Unterschied zwischen Mann und Frau
Alleine damit erklärt sich das manchmal abnorme Verhalten aber nicht. Vielmehr gibt es auch einen geschlechterspezifischen Unterschied, denn schließlich wird Fußball auch von Frauen gespielt. Dort gehört laut Amesberger "die Drohgebärde grundsätzlich schon dazu, ansonsten hätte man den Gegner vielleicht viel zu wenig unter Kontrolle".

Aber obwohl sich die Damen ebenfalls nicht immer "ladylike" verhalten, legen sie größtenteils ein besseres Benehmen an den Tag. "In der Regel hängt es schon ein Stück mit dem Geschlecht zusammen, weil es dem Mann alleine von der Sozialisation her viel eher erlaubt ist, aggressiv zu sein. Mädchen sind viel mehr geschult im Zurückhalten von aggressiven Handlungen", erklärt Amesberger.

Sportlicher Gegner und kein Feind
Ein brutales Verhalten gänzlich zu vermeiden ist laut Amesberger jedoch nicht möglich, obwohl "die Deeskalierung ein Grundanliegen im Sport" sein sollte.

Wichtig sei, dass ein Wettkampf - sowohl medial als auch von Trainer- und Sportlerseite - nicht als "Schlacht" oder "Vernichtungskampf" dargestellt werde.

Der Konkurrent solle als sportlicher Gegner und nicht als Feind, den es zu vernichten gilt, angesehen werden. In der Folge käme es nicht zu einer Entpersonifizierung. "Das ist ganz wichtig. Wer das nicht tut, läuft Gefahr, den Sportethos zu unterlaufen", so der Appell des Sportpsychologen.

Christian Wagner, ORF.at

Link: